30 Jahre auf Station

Eine Kinderkrankenschwester erzählt vom Alltag im Krankenhaus

Interview vom 31.03.2017

Die Krankenhäuser werden kaputtgespart, es fehlt Personal an allen Ecken und Enden. Ver.di bereitet sich auf flächendeckende Streiks vor, den Anfang machte am 27.März das Saarland mit Streiks in zwölf Krankenhäusern.

Anneli (Name von der Redaktion geändert) ist Kinderkrankenschwester. Sie hat ihre Ausbildung 1989 begonnen und arbeitete seitdem immer auf der gleichen Station, bis sie Ende letzten Jahres in Rente ging. Mit ihr sprach Violetta Bock über die Arbeitsbedingungen, die Veränderungen und wie die Pflege in Deutschlands Krankenhäusern abläuft.

Was kommt dir im Rückblick auf deine Arbeit als erstes in den Sinn?

Die Pflege war damals so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Man kümmerte sich sehr intensiv um die Patienten. Ich war auf einer Station, auf der auch richtig schwerkranke Kinder waren und auch welche, die im Koma lagen. Ich erinnere mich an einen Jungen, der ertrunken war. Er war länger bei uns auf der Station und ist später auch gestorben. Ich kümmerte mich damals nur um diesen Jungen, ich hatte einen Patienten. Das war damals meine einzige Aufgabe. Das ist heute Luxus. Heute bist du die ganze Zeit zugange, machst ganz viel und bist die wenigste Zeit bei den Patienten.

Wenn ich an die Sauberkeit denke, man hat jeden Tag die Türklinken geputzt und jedes Gitterchen der Kinderbetten. Das machten wir morgens als erstes. Die Desinfektion und jeden Tag Neubeziehung der Betten - das wird heute gar nicht mehr gemacht, sondern nur noch nach Bedarf. Jedes Kind wurde morgens gewaschen. Heute gibt es noch nicht mal die Badewanne in den Zimmern.

Andererseit muss ich auch sagen: Als ich damals als Schülerin anfing, waren wir als Schülerinnen im Spätdienst eineinhalb Stunden alleine. Das ginge heute gar nicht mehr. Wir haben damals IV-Medikamente direkt gespritzt, Antibiotika, das läuft heute alles über Pumpen, das sind alle Kurzinfesionen. Früher hat man in die Vene gespritzt als Schwester. Das darf man heute nicht mehr. Also damals viel mehr Zeit, allerdings gegenüber heute auch viel weniger Information über die Patienten. Die Krankenakten gab es damals für uns als Schwestern nicht zu lesen, wenn dann nur für die Stationsschwester. Wir bekamen nur die Anordnungen, welche Medikamente wir verabreichen sollen, aber durften nicht in die Akten gucken. Heute ist das umgekehrt. Wir haben nun eine elektronische Akte, darin ist alles gespeichert. Das ist einerseits ein Segen, weil alles nachvollziehbar ist, andererseits hat man gar keine Zeit alles in den Computer einzupflegen. Manchmal bekommt ein Patient dann ein Medikament ein paar Tage nicht. Früher waren solche Fehler weniger. Das ist der Riesenunterschied gegenüber heute. Der Patient hatte mehr Pflege von den Schwestern. Heute bist du die ganze Zeit zu Gang, machst ganz viel und bist die wenigste Zeit bei den Patienten.

Wie läuft so ein gewöhnlicher Tag ab?

Nehmen wir mal den Frühdienst auf unserer Station. Man kommt zusammen, die Nachtwache sagt, was passiert ist, ob es neue Zugänge gibt und deren Diagnosen. Man spricht jeden Patienten kurz durch. Dann fängt man nach etwa einer halben Stunde an zu arbeiten. Man bereitet die Medikamente vor, geht zu den Patienten, hilft bei Bedarf bei der Körperpflege, misst Fieber, gibt die Medikamente. Dann muss man alles dokumentieren. Die Dokumentation nimmt am meisten Zeit in Anspruch. Heute macht man das alles auf Computern, von denen es aber nicht genug auf der Station gibt. Dann wird die Station aufgeräumt, die Sachen werden aufgefüllt, es wird erfasst, was bestellt werden muss und was fehlt. Das Telefon klingelt dazwischen die ganze Zeit. Also rennt man immer zwischen Computer, „Patientenklingeln“ und Telefon hin und her und wird dadurch aus den Gedanken gerissen.

So gegen 9 Uhr kommt die Visite mit den Ärzten. Früher ging immer eine Schwester mit aufs Zimmer und hörte, was der Arzt und was die Patienten sagen. Das ist heute meist nicht mehr möglich. Oft ist es so, dass die Ärzte alleine gehen und dann ihre Anordnungen schreiben, das guckt man dann hinterher nach und ändert die Therapie entsprechend. So vergeht der Vormittag. Dann kommt Mittagessen, in der Zwischenzeit hat man die Visiten aufgearbeitet. Dann kommt die nächste Schicht und es geht wieder von vorne los. Besonders schwer war bei uns, dass wir unterschiedliche Dokumentationssysteme hatten, teils auf Papier, teils elektronisch, verschiedene für Kinder und Erwachsene, und je nach Fachrichtung.

Die Umstellung war für viele schwierig. Oft wurden ausländische Ärzte nicht richtig angelernt. Dann mussten wir als Schwestern wieder nachfragen, wie das jetzt gemeint ist. Manche Sachen haben sie früher einfach vorausgesetzt, aber seit der elektronischen Akte muss alles eingetragen sein. Die elektronische Akte hat auch Vorteile. Man muss nicht mehr rätseln, was der Arzt geschrieben hat. Aber es muss eben exakt geschrieben sein, und die Ärzte können sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Schwestern aus Erfahrung wissen, was der Arzt meint.

Gab es besonders gravierende Einschnitte?

Wir waren auf unserer Station alle Kinderkrankenschwestern. Als es 2007 Umstrukturierungen gab, um Geld einzusparen, zogen wir in ein anderes Haus um. Es dauerte nicht lang, da hieß es, wir müssen auch Erwachsene pflegen. Wir sind nicht ausgebildet für Erwachsenenpflege. Und als wir gesagt haben, das möchten und können wir nicht, da hat man uns gesagt „Krankenschwester ist Krankenschwester“. Da hab ich für mich gedacht, dass ist Verachtung des Berufes. Wer das sagt, hat keine Ahnung. Das sind so Riesenunterschiede, wo man arbeitet. Heute wird ja alles in einen Topf geworfen, Krankenschwester, Kinderkrankenschwester, Altenpfleger, zumindest wird das geplant. Und wer das plant, hat wirklich keine Ahnung.

Denn ein Frühgeborenes zu pflegen, ist etwas ganz anderes als einen Herzpatienten. Da muss man sich schon spezialisiert haben. Das fängt mit Medikamenten an. Als Schwester muss man wissen, wie die wirken und welche Mengen.

Von heute auf morgen musste man als erstes Erwachsene pflegen und man kam ins Zimmer und dachte sich, hoffentlich merkt dieser Patient nicht, dass ich keine Ahnung hab und wie hilflos ich bin. Man hatte direkt Angst vor Fragen.

Was war die Begründung?

Unsere Station war nicht rentabel genug, weil nicht genug Kinder da waren. Die Sache wurde ganz schlimm, als die gemerkt haben, dass es irgendwie klappt. Da war dann unsere Station diejenige, die alles kriegt, weil sie im Belegungsplan noch grüne Punkte hatte. Und grüner Punkt heißt freies Bett. Gerade die Kinderklinik wurde von anderen Bereichen oft so gesehen, als hätten wir nichts zu tun, weil sie nur 20 Patienten drin sehen. Aber die sehen nicht, dass da auch 20 Mütter dabei sind. Mit ihnen allen muss man kommunizieren, sie alle muss man bedienen können. Man meint, ein Kind ist klein und macht weniger Arbeit. Es hat oft nicht den gleichen Stellenwert wie ein Erwachsener. Zum Beispiel bei der Blutabnahme muss ich mir bei Kindern manchmal eine Stunde Zeit nehmen, damit ich überhaupt an das Kind rankomme. Aber in der Verwaltung sieht man das nicht.

Für wie viele Patienten etwa wart ihr zuständig?

In der letzten Zeit an schlimmen Tagen oft für 13 Patienten. Wenn man so überlegt, was alles dazu gehört, das ist unmöglich.

Ich hab mir einmal aufgeschrieben, was ich alles in einer Nachtwache zu tun hatte, danach habe ich gesagt, ich mach' das nicht mehr.

Meine Schicht fing um 21 Uhr an, dann zuerst eine halbe Stunde Übergabe, 22 Uhr vier Inhalationen, 23 Uhr zwei Inhalationen, 13 IV-Medikamente, also die mit der Pumpe direkt in die Vene gehen. Das muss man jedes Mal neu berechnen. Der Doktor sagt, wie viel Milligramm und ich muss es in Milliliter berechnen. Dann zieh ich das in eine Spritze auf, 13 Stück, bringe es zu den Patienten, muss das anschließen, Maschine bedienen, dann geh ich weg. Das läuft immer eine halbe Stunde. Dann piept es und ich muss sie wieder abnehmen und mit Kochsalz nachspritzen, so dass es offen bleibt. Und da war es dann so, dass es 11 Teilmengen waren und zwei waren ganze Flaschen. Jede Schwester muss jedes Mal die Milliliter neu berechnen, damit sich nicht ein Fehler einschleicht. Bei drei Kindern musste ich den Doktor anrufen, damit er den Zugang neu macht. Bei Kindern dürfen wir das nicht selbst machen. Da musste ich dann auch dabei sein, alles vorbereiten, das Kind festhalten. Um 24 Uhr hatte ich vier Inhalationen. Um 1 Uhr eine Inhalation, um 2 Uhr fünf Inhalationen, 3 Uhr eine Inhalation, 4 Uhr vier Inhalationen, 5 Uhr zwei Inhalationen, 6 Uhr vier Inhalationen. Und ich bin allein auf der Station. Und man hofft natürlich, dass die Mütter lieb sind und, wenn ich das vorbereite, sagen, ich inhaliere schon mit meinem Kind.

Eine Inhalation dauert vielleicht zehn Minuten. Wenn man das zusammenrechnet, 26 Inhalationen. Das schafft man gar nicht. In der Nacht händigte ich fünfmal Babyflaschen aus, nahm zweimal Medikamente aus dem Giftschrank. Das heißt, das muss ich in das Giftbuch eintragen, mit den genauen Patientendaten. Das ist zeitaufwendig.

Dann kamen vier neue Patienten, die Station war schon voll. Ich musste anfangen zu überlegen, wo tust du die hin? Der Doktor wollte für jeden Patienten ein Einzelzimmer. Da war ein Patient mit Verdacht auf Meningitis. Dann musste ich zwei Erwachsene mitten in der Nacht verlegen. Das war sicher für die auch nicht schön. Dann war da ein Jugendlicher, der Alkohol und Drogen genommen hatte und ein bisschen neben der Spur war. Die ging dreimal von der Station und kam nicht zurück. Und ich konnte die ja nicht suchen gehen. Sie ist dann irgendwann auf dem Gelände gefunden worden. Ein einjähriges Kind habe ich ins Arztzimmer neben dem Schwesternzimmer gebracht, weil es so unruhig war und ich es so besser im Blick hatte. Und bei vier Kindern war Monitorüberwachung, das heißt bei Alarm musste ich da sein. Nun ist unsere Station unheimlich lang. Ein Monitor hier, ein Monitor da, das hört man nicht. Wenn die Eltern dann nicht klingeln und darauf aufmerksam machen, dann … Dann die Dokumentation. Pause konnte man in der Nacht vergessen.

Nachts ist es schön, wenn die Eltern da sind. Und wenn sie bereit sind zu arbeiten, mit ihrem Kind inhalieren oder es füttern. Sonst schafft man es nicht. Da braucht man nur zwei, drei Babies, die alle paar Stunden ihre Flasche brauchen. Wie soll man das machen. Ich habe das alles für mich aufgelistet, dann wird einem klar, das kann kein Mensch schaffen.

Wie geht man damit um?

Bei einem Kind musste man Angst um sein Leben haben und mein Ziel war, es durch die Nacht zu bringen. Dann ist da ein Kind, das nicht so schlimm hustet, und da lass ich halt mal eine Inhalation weg. In dieser Nacht war es so, dass ich keine Zeit mehr hatte zu lesen, was ich alles zu tun hatte – außer die IV-Medikamente, die sind das Allerwichtigste. Aber zum Beispiel die Inhalationen, wenn es nur Kochsalz ist: Man guckt nicht mehr auf die Uhr, sondern macht es dann, wenn es passt. Man ist eigentlich verpflichtet, alle zwei Stunden nach dem Patienten zu schauen. Wenn man weiß, da ist ein Patient mit Bauchschmerzen und du weißt, das Kind schläft, da gehst du halt erst dann, wenn du Zeit hast.

Wie reagieren die Eltern auf die Situation?

Es gibt Eltern, die beobachten sehr genau und sehen, dass die Schwestern viel zu tun haben und halten sich dann auch zurück und versuchen möglichst wenig zu stören. Dann gibt es die, die überhaupt kein Verständnis haben und bei denen man manchmal das Gefühl hat, dass sie sich wegen jeder Kleinigkeit melden. Und andere sammeln extra ihre Fragen und sprechen dann, wenn sie klingeln extra alle Anliegen auf einmal an, damit die Schwester nicht mehrfach kommen muss. Das ist sehr gut, wenn jemand so mitdenkt. Dann gibt es die Eltern, die wirklich empört sind, wie wenig man sich um sie kümmert. Es ist auch leider so, wenn man weiß, in dem Zimmer ist jetzt nichts besonderes, Medikamente sind gegeben, dann geht man auch nicht immer hin, was man als Patient erwartet. Bei den Erwachsenen merkt man auch, wenn man ins Zimmer geht und einfach mal fragt „Wie geht’s ihnen?“, dass sie total erstaunt sind, dass jemand wirklich wissen will, wie es ihnen geht.

 

Versucht ihr, etwas gegen den Pflegemangel zu machen?

Man redet zwar vom Pflegemangel, aber es wird niemand eingestellt. Wer schreibt aus? Wer stellt ein? Wir haben zu wenig Schwestern, aber es wird so gewollt. Jetzt heißt das Motto: Wenn es dir nicht gefällt, dann geh doch. Es wird einfach gespart, schön, wenn wir so zurecht kommen, und wir können die Schraube ja noch ein bisschen anziehen. Irgendwie kommt man immer durch ohne zu sterben.

Wir hatten einmal ein Gespräch mit der Pflegedirektion. Ich hab dann erwähnt, dass ich doch keine Zeit dafür hab, das im Computer zu gucken. Das hat der Pflegedirektor gehört. Und dann hat er gesagt: „Sind sie jemals auf die Idee gekommen, das in ihrer Freizeit zu machen?“ Das hat er gesagt und das war so eine Bombe für mich, weil ich mich früher ganz viel in meiner Freizeit engagiert habe. Und mit diesem einen Satz hat er die ganze Motivation kaputt gemacht. Er kannte mich nicht, er hätte es vielleicht nicht gesagt, wenn er gewusst hätte, was ich schon alles für sein Unternehmen gemacht habe. Es wird auch erwartet, dass wir alle emails lesen. So ein Bild haben die, als würden wir den ganzen Tag vorm Computer sitzen. Daran merkt man, dass Theorie und Praxis auseinander liegen.

Bereust du es?

Nein, es war sehr schön am Anfang. Die letzten zehn Jahre ist es immer schlimmer geworden. Man hat als Schwester auch gemerkt, je mehr Patienten durchgehen, desto zufriedener ist die Chefetage, weil das Geld bringt. Es wird viel aufgenommen, aber genauso schnell auch wieder nach Hause geschickt. Nur jede Aufnahme macht unheimlich viel Arbeit für die Schwestern und auch für die Ärzte. Immer mehr Schwestern feiern krank wegen Depression, wegen Burnout. Die Ärzte sind genauso von der Sparerei betroffen. Früher blieben die Patienten länger, man kannte sie besser, es gab so eine gewisse Routine, es war leichter, wir waren viel mehr Leute. Jetzt sind wir weniger Schwestern und mehr Patienten. Auch die Putzfrauen haben kaum Zeit, die Zimmer richtig zu putzen, egal wie gut sie sind, manche bleiben sogar ohne Bezahlung länger.

Ein Tipp für Leute, die jetzt erst anfangen?

Auf alle Fälle sollten alle in die Gewerkschaft. Viele begreifen noch nicht, dass man nichts geschenkt bekommt. Sie müssen selbstbewusst sein, auch gegenüber den Vorgesetzten. Und da ist es wichtig, dass man auch ein gutes Team hat.

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